Noch Minuten nach ihrem deutschen Rekord über 200 Meter Schmetterling hüpften die Gedanken von Franziska Hentke ganz aufgeregt im Kreis. Nicht nur, dass sie ihre eigene Leistung bei den German Open in Essen am vergangenen Freitag gleichermaßen für “unfassbar” und für “Wahnsinn” hielt. Sie blickte sogleich auf die nächsten vier Wochen voraus. Sie sagte: “Das ist jetzt eine Situation, die ich eigentlich nicht haben wollte.” Und sie befürchtete: “Mir wird die Frage nach meiner Medaillenchance bei der WM bestimmt noch 20-mal gestellt werden.” Sie wird dann übrigens 20-mal diese Antwort geben: “Mein Ziel ist das Finale.”
So ist das mit großen Rekorden und mit der Tatsache, plötzlich in einem populären Sport die Nummer eins der Welt zu sein – das schürt Erwartungen. Mit den 2:05,26 Minuten von Essen steht Hentke in ihrer Disziplin also an der Spitze der internationalen Rangliste 2015. Noch vor Vizeweltmeisterin Mireia Belmonte aus Spanien, über die sie mal sagte: “Sie ist das Maß aller Dinge für mich.” Und noch vor den Chinesinnen, die in der jüngsten Geschichte dieses Wettbewerbs alle großen Titel abgeräumt haben. Das ist tatsächlich “der Wahnsinn”, wie selbst Bundestrainer Henning Lambertz befand. Vor allem aber ist es kein Zufall, sondern einfach Franziska Hentke vom SC Magdeburg.
“Man muss das mal versuchen einzuordnen”, hat sie nach ihrem famosen Rennen erklärt und die Aufgabe gleich selbst übernommen. “Irgendwann 2009 bin ich eine 2:08,00 Minuten geschwommen und bin dann sechs Jahre lang immer nur einen Ticken schneller geworden – und plötzlich dieser Sprung”, betonte sie mit gehobener Stimme das “Unfassbare”.
Ein riesiger Sprung: Sie hat ihre alte Bestmarke um 1,79 Sekunden unterboten, und sie hat die sechs Jahre alte nationale Bestzeit von Annika Mehlhorn (2:06,45) um 1,19 Sekunden pulverisiert – ein Rekord, der aus der Ära hautenger Rennanzüge resultierte. Und neben ihrem Bronze-Gewinn bei der Kurzbahn-WM im Dezember 2014 war es zugleich eine endgültige Genugtuung nach ihrem sechsten Platz bei der EM 2014 in Berlin, der sie so sehr enttäuscht hatte.
Mit ihrem Ergebnis hat sie selbst den Bundestrainer überrascht: “Das ist eine klasse Zeit”, jubelte Lambertz, der zugleich hofft, dass Hentke diese bei der WM in Kasan (Russland/24. Juli bis 9. August) wiederholen kann. Dort wird sie zudem über die 400 Meter Lagen und wohl auch über die 100 Meter Schmetterling starten.
Das Erfolgsgeheimnis ihrer Entwicklung liegt zum einen in der Zusammenarbeit zwischen Hentke und ihrem Trainer Bernd Berkhahn und zum anderen im Charakter der Athletin. Sie hat mit Disziplin und Ehrgeiz seit 2012 die Vorgaben von Berkhahn angenommen. “Wir haben an mehreren kleinen Dingen gearbeitet”, berichtete der Trainer. Die Dinge heißen Atemtechnik und -rhythmus, sie heißen Wende und Anschlag, sie heißen Schwimmtechnik und Kraft. Beinahe zehn Kilogramm hat Hentke in der Zeit mit Berkhahn an Gewicht verloren, dass es nicht mehr sind, liegt an der Muskelmasse, die sie wiederum hinzugewonnen hat. Bis zu 80 Kilometer pro Woche im Trainingsbecken haben ihr die nötige Ausdauer gegeben.
Hentke hat alle Änderungen ihres Trainers immer hinterfragt, aber nie über richtig und falsch diskutiert. Wenn sie in der Elbehalle ihre Einheiten absolviert, ist zwei Stunden lang so gut wie nichts von ihr zu hören. Und weil sie diese Geduld und Disziplin und dieses Vertrauen zum Coach besitzt, schätzt sich Berkhahn wiederum glücklich, wenn er sagt: “Ich bin in der Lage, sie gut zu steuern.”
In den vergangenen vier Wochen hatte sich angedeutet, dass die bescheidene Hentke auf etwas Großes zusteuern kann auf ihrer Paradedistanz. “Ich hatte im Höhentrainingslager in Sierra Nevada keine einzige schlechte Einheit”, berichtete die 26-Jährige. Kurz vor den German Open erklärte sie zudem völlig euphorisch: “Mir geht es so gut wie noch nie.” Und im Rennen von Essen hielt sie dann sogar das Niveau der ersten 100 Meter bis zum Schluss durch, was ihr in der Vergangenheit selten gelang.
Jetzt also kommt die WM, in der eine Belmonte, eine Katinka Hosszu (Ungarn) oder womöglich eine bislang unbekannte Chinesin aus der Tiefe des Beckens zu schnellen Zeiten schmettern können. Deshalb gilt: “Wir müssen die Belastung hochhalten”, sagten Hentke und Berkhahn, um ihre aktuelle Form von Essen zu konservieren. Und wenn sie ihr eigentliches Ziel erreicht hat in Kasan, dann besteht auch immer die Möglichkeit einer Medaille. Mit oder ohne Erwartungen.
von Daniel Hübner
Quelle : volksstimme.de