Vergessen sind die traurigen Augen, die das Bild der Franziska Hentke in Kasan (Russland) prägten. Vergessen sind die Tränen, die sie insgeheim weinte nach ihrem vierten Platz über 200 Meter Schmetterling bei jener Weltmeisterschaft. Vergessen ist das alles, weil es so viele positive Momente in der Saison 2015 gegeben hat. Momente, „die mich weiter nach vorne gebracht haben“, erklärt Hentke. Am Ende der kommenden Serie warten nun ihre ersten Olympischen Spiele, ausgetragen in Rio de Janeiro, der Karriere-Höhepunkt für jeden Sportler. 2016 soll deshalb ein unvergessenes Jahr werden. Und dafür hat sie bereits eine Voraussetzung geschaffen. Hentke sagt nämlich: „Der Kopf ist frei.“
Sie hatte nicht mal Zeit, sich über die Vergangenheit viele Gedanken zu machen, „weil Rio gleich nach der Saison im Fokus stand“. Sie hatte nicht mal Urlaub, höchstens ein „Urlaubstrainingslager“, wie sie den jüngsten Aufenthalt in Colonia Sant Jordi auf Mallorca bezeichnet.
Wenn sie dennoch für einen Moment zurückblickt, dann fragt sie sich, „warum die vergangene Saison so gut gelaufen ist“. Und stellt allgemein fest: „Es waren viele Bausteine, die zum Erfolg geführt haben.“ Erfolge wie ihr erster Weltcupsieg zum Saisonabschluss in Chartres (Frankreich), wie auch der vierte Platz bei der WM. Wie der deutsche Rekord, den sie mit 2:05,26 Minuten im Juli aufstellte und mit dem die 26-Jährige vom SC Magdeburg noch immer an der Spitze der Weltjahresbestenliste steht.
Diese Leistung war auch das berauschende Ergebnis ihrer Vorbereitung in Sierra Nevada im vergangenen Juni. In das Trainingslager in der Abgeschiedenheit der spanischen Provinz verschlägt es sie ab kommenden Mittwoch erneut. Insgesamt zehn Wochen hat ihr Trainer Bernd Berkhahn für die Vorbereitung auf Rio allein in der Höhe eingeplant.
Es wird zugleich ein Auftakt mit neuem Rekord, denn 29 Tage am Stück hat Hentke in dieser Stille zwischen den weißen Bergen und auf 2700 Metern über dem Meeresspiegel zuvor noch nie verbracht. Eigentlich ist dann alles wie gehabt: „Letztlich wird es darum gehen, Grundlagen für die Saison zu schaffen“, erklärt Hentke. Letztlich wird sie in den entspannten Momenten Fotos von Sonnenuntergängen schießen. Letztlich wird es zur Abwechslung einen Ausflug nach Granada oder nach Malaga geben. Und doch ist eines völlig anders: „Ich habe das beste Ausgangsniveau, das ich jemals hatte. Und ich habe den großen Faktor Sicherheit aufgrund meiner zuletzt stabilen Leistungen.“
Sie hat noch viel mehr als ihre physische Stärke. Ihre Psychologin Cornelia Demuth in Halle und sie selbst „sind mit meiner Entwicklung in den vergangenen drei Jahren sehr zufrieden“, berichtet Hentke. Sie gehört hinsichtlich ihrer Wettkampfhärte inzwischen zu den stärksten Damen des Deutschen Schwimmverbandes (DSV). Um das am Ende auch in Rio zu bestätigen, will sie vor allem gesund bleiben: „Das ist das Allerwichtigste“, sagt sie. Und Franziska Hentke weiß, wovon sie spricht.
Es mögen ihre ersten Spiele werden in Rio, aber sie nimmt bereits ihren dritten Anlauf auf Olympia. Für Peking 2008 verfehlte sie die Norm. Eine 2:09,2 Minuten sollte sie über ihre Paradedistanz liefern, „aber ich war zuvor in meinem Leben nur einmal schneller geschwommen“. Für London 2012 fehlte ihr die Gesundheit. Virusinfektionen ließen sie immer wieder zurückfallen. Hentke spricht noch heute von einem „Jahr zum Vergessen“.
An der Norm dürfte es diesmal nicht scheitern. Die schnellste Zeit, die der DSV von der SCM-Athletin in der Qualifikation fordert, ist eine 2:08,86 Minuten. Und es klingt in keinster Weise überheblich, wenn Hentke feststellt: „Das bin ich schon 100-mal geschwommen.“ In diesem Jahr hat sie mit beträchtlicher Konstanz jene Zeit weit unterboten. Trotzdem ist längst nicht alles perfekt. „Ich habe zwar meine Schwächen abgebaut, aber wir müssen alles verfeinern: Wende, Technik, Kraft, Stehvermögen“, erklärt Hentke.
Am Selbstvertrauen muss sie jedenfalls nicht mehr basteln. Am Ziel übrigens auch nicht: „Das Finale in Rio“, sagt Hentke, „das wäre perfekt.“
von Daniel Hübner
Quelle : volksstimme.de