Von Daniel Hübner
Magdeburg | Es gibt einen neuen Geist in der Magdeburger Elbehalle. Anders ist das Mysterium Norbert Warnatzsch nicht zu verstehen. Während der Erwärmung der SCM-Schwimmer sitzt er erst auf einem weißen Gartenstuhl. Die Beine übereinander geschlagen. Der Blick aufmerksam zum Becken gerichtet. Aber lässt man den 72-Jährigen auch nur einen Moment aus den Augen, steht er plötzlich auf der anderen Seite der 50-Meter-Bahn, mit beiden Armen aufgestützt auf einem Startblock.
So geht das die gesamte Einheit lang, bis Warnatzsch mit einem Teller mit belegten Brötchen seinen Platz auf der Tribüne sucht. Und sich nicht mehr von der Stelle bewegt. Es ist 9 Uhr an einem Donnerstag im Mai. Warnatzsch ist bereits seit dreieinhalb Stunden aktiver Begleiter der Magdeburger auf ihrem Weg nach Tokio.
Und er ist der Erste, der an jenem Morgen erscheint. Die Wolken haben sich in Grau gekleidet und lassen es regnen. Vor der Elbehalle steht ein einsames, hellblaues Fahrrad. Nur wenige Autos stören die Stille. Warnatzsch betritt die Halle, geht durchs Foyer, am Imbiss vorbei, dann die schmale Treppe hinauf zu den Trainerbüros. Er kocht den Kaffee, die anderen werden bald folgen. Die anderen wie der Bundesstützpunkttrainer, seit 1. Februar auch Bundesstrainer, Trainer der SCM-Athleten.
Durchatmen, Trainingspläne schreiben
Bernd Berkhahn hat bereits eine E-Mail an diesem Morgen verschickt an einen befreundeten Studenten, mit Anmerkungen zu dessen wissenschaftlicher Arbeit. Gleich nach dem Aufstehen um 5 Uhr. Berkhahn hat Stress, das steht ihm ins Gesicht geschrieben. Als er das Büro betritt, verharrt er einen Moment auf der Türschwelle und atmet durch. Er ist müde. Die Augen klein. Das rote Haar verwuschelt. Dabei war er am Abend zuvor bereits um 21 Uhr auf der heimischen Couch eingeschlafen, früher als sonst. Zuweilen arbeitet er bis Mitternacht. Aber irgendwann fordert sein Körper den Schlaf, den er zu selten bekommt.
Jetzt sitzt der 48-Jährige wieder an seinem Schreibtisch. „Unser Ritual am Morgen ist es einfach, gemeinsam Kaffee zu trinken“, sagt Warnatzsch, während man das Beckenwasser durch das Bürofenster plätschern hört. Berkhahn sagt nichts: Er schreibt Trainingspläne für zehn Athleten. Nur für den Vormittag. Und nach seinen Eindrücken von der Leistungsdiagnostik am Vortag in Leipzig. Das mag Warnatzsch am jüngeren Kollegen: „Er lebt diesen Job, er ist strebsam, er ist diszipliniert. Er ist immer offen für etwas Neues, versucht, neue Impulse zu setzen, prüft aber vorher, ob sie zu seinem Ziel führen.“ Ebenso sagt man Berkhahn nach, er sei ein eher emotionsloser Trainer. Warnatzsch sagt: „Nicht im Geringsten.“
Beide haben vor 20 Jahren erstmals zusammengearbeitet. Im Höhentrainingslager auf dem Belmeken in Bulgarien. „Meine erste Höhe überhaupt“, sagt Berkhahn, der damals und noch in Hamburg den Olympiastarter Heiko Hell betreute. Zuvor gab es mal das eine oder andere Gespräch am Beckenrand. „Wir hatten von Anfang an ein vernünftiges Verhältnis zuein-ander“, erklärt Warnatzsch.
Freistil-Spezialist und Brustschwimmer
Er war da längst ein erfolgreicher Coach, ein „alter Hase“. Seit 1969 leitet er Schwimmer zum Erfolg an. Erst im Nachwuchs, ab 1976 in der Spitze. Bis zum Mauerfall bei Dynamo Berlin. Selbst war er mal Freistil-Spezialist, dann Moderner Fünfkämpfer, bis sie die Disziplin in der DDR geschlossen haben. Dann Fechter. Dann wurde er Trainer. „Ich wollte immer Trainer werden“, betont er.
Berkhahn war auch mal Schwimmer, Brustschwimmer in Schleswig, seiner Geburtsstadt. Er übte sich auch noch im Triathlon. Aber bereits mit 19 Jahren wechselte er die Seite, wollte zunächst aber Kinder- und Jugendtherapeut werden, ist dann Diplom-Trainer geworden. Hat noch seinen Bachelor in Sport und angewandter Trainingswissenschaft geschrieben, wollte ein Studium zur Sportpsychologie anfügen. Doch nach einem Jahr kam 2012 das Angebot, die SCM-Athleten zu trainieren. „Ich wollte immer etwas Neues lernen“, sagt Berkhahn. „Und es hat mich auch weitergebracht.“
Berkhahn ist derjenige, der an diesem Morgen Einzelgespräche führt, ohne dabei den Blick für die Schwimmer im Becken zu verlieren. 30 Kinder, Jugendliche, gestandene Athleten aus allen SCM-Gruppen tummeln sich im Wasser, absolvieren Starts, Serien und Wenden. „Manchmal ist das nicht einfach, den Überblick zu behalten“, sagt er lächelnd.
Zwei Verfechter des Höhentrainings
Im Höhentrainingslager in der Sierra Nevada (Spanien), in dem er mit Warnatzsch derzeit den nächsten Schritt mit den Athleten zur Weltmeisterschaft nach Gwangju (Südkorea/12. bis 28. Juli) geht, fällt ihm das leichter. Höhe war für beide schon immer ein Thema. Auch in dieser Hinsicht harmonieren beide Trainer.
“Früher war ich mit den Athleten immer auf dem Belmeken“, berichtet Warnatzsch über seine Reisen mit den DDR-Schwimmern in die bulgarische Höhe. „Ich habe nach zwei Jahren Gesamtaufenthalt bei drei Wochen pro Traningslager aufgehört zu zählen, wie oft ich dort war.“ Die Reisen gingen nach der politischen Wende weiter, in die USA oder nach Mexiko. „Ich bin ein absoluter Verfechter des Höhentrainings“, sagt „Kelly“ Warnatzsch. Wie Berkhahn eben auch.
„Kelly“ – so lautet also der Spitzname von Norbert Warnatzsch, der mit seiner Gattin in Kühlungsborn an der Ostseeküste lebt. John Kelly hieß der Autor von Wildwest-Romanen wie „Ein Cowboy kämpft für die Verfemten“. Die lieh sich der junge Warnatzsch von einem Bekannten, um sie „heimlich zu lesen“. In der guten alten DDR-Zeit. „Das war mein Lieblingsautor“, sagt er. Aus dem guten alten Westen.
„Kelly“ klingt sehr frech für diesen älteren Herrn. Und doch passt er perfekt: Wenn Warnatzsch hinter seinem grauen Bart die Lippen zu einem leisen Lächeln formt und seine Augen dabei leuchten, entdeckt man den Lausbuben in ihm. Kein Wunder also, dass er für „gute Stimmung“ sorgt, sagt Berkhahn. Dass er „charmant zu den Sportlern ist“, sie gerne mal „mein Kind“ nennt. Aber nicht nur das: „Norbert hat im positiven Sinne eine penetrant methodische Vorgehensweise und kann sehr konsequent sein“, beschreibt Berkhahn seinen Assistenten, mit dem er spontan alle Absprachen trifft. Das Wichtigste, das beide verbindet: „Ich schätze ihn sehr“, erklärt Berkhahn.
“Helfer für Bernd”
Um 9.30 Uhr haben die Athleten die Elbehalle verlassen, Berkhahn und Warnatzsch sitzen im Foyer. Es gibt wieder einen Kaffee, es folgen Besprechungen. Warnatzsch selbst sieht sich allein als „Helfer für Bernd“, die nächsten Ziele zu erreichen. Wie in Tokio.
Und er ist „zuversichtlich, dass wir gut abschneiden werden“, sagt er. Auf ein Medaillenziel will sich der Mann, der in Peking 2008 mit Britta Steffen das letzte Edelmetall für den DSV bei Sommerspielen holte, nun nicht festlegen. Und noch viel weniger Berkhahn: „Wir sind doch noch gar nicht qualifiziert“, sagt er.
Genau daran arbeiten beide Trainer, auch an diesem verregneten Donnerstag im Mai. Ab 15 Uhr geht es weiter. Trainingspläne schreiben. Gespräche führen. Und als guter Geist durch die Elbehalle wandeln.
Quelle : volksstimme.de